Welch mannigfache architektonische Schätze es in unserer Verbandsgemeinde, in unserer Kreisstadt und deren Umgebung gibt, wird den Schüler*innen der FOS Gestaltung zunehmend auf ihren Exkursionen klar. Corona bedingt fallen Reisen zu weiter gelegenen Orten momentan leider aus, aber: „Das gibt uns die Gelegenheit, die Schätze der Region zu erkunden!“, schwärmt Gestaltungslehrerin Otte-Varolgil. Auf dem Unterrichtsprogramm der FOS 12 stehen aktuell die Stilepochen Romanik und Gotik. Die architektonischen Merkmale dieser Epochen, Übungen zu mittelalterlichen Schriften und Ornamentik sind Unterrichtsthema gewesen und können nun – ganz in der Nähe – real in Augenschein genommen werden: in Mehren, in Almersbach und in Marienstatt.
Bei der romanischen Basilika zu Mehren aus dem 12. Jahrhundert fällt der Gruppe direkt der barocke Fachwerkspeicher über der Apsis im Norden auf, der im Gegensatz zum weiteren Corpus aus massivem Bruchstein besteht. Mit dieser Konstruktion wollte man die Probleme des zweifach gestuften Daches in den Griff bekommen. Den Schüler*innen wird schnell klar: Einerseits schauen wir hier Kunstgeschichte an, andererseits geht es um Bautechnik.
Im Inneren der Kirche offenbart sich ein romanischer Raum mit dicken Pfeilern. Der Blick richtet sich direkt durch das Langhaus zum leuchtenden Rundbogenfenster von Hindorf (1964) in der Apsis. Da die Schüler*innen auf der Suche nach typischen Mustern der Epochen sind, fällt ihnen das Zickzackfries um den Triumphbogen auf. Architekt Thomas hatte 1969 diese Kirche in authentischen romanischen Farben und Ornamenten restauriert. Dass romanische Muster sehr modern sein können, beweist ein Blick an die Flachdecke, die den Schüler*innen noch Inspiration für eigene Printprodukte im Werbebereich sein wird.
Die Mehrener Kirche liegt umrankt von einem Fachwerkhausensemble aus dem 17. und 18. Jahrhundert – sehr malerisch! Einige der denkmalgeschützten Häuser sind renovierungsbedürftig; schon möglich, dass eine Fachoberschülerin oder ein Fachoberschüler sich eines Tages wieder hier im Einsatz findet. „Aber wie renoviert man denkmalgetreu – und mit welchen Materialien?“ Frau Otte-Varolgil plant, den Lehmbauer M. Fahnert, in den Unterricht einzuladen, um ganz praktische Antworten auf diese Fragen zu bekommen.
Und Mehren hat noch mehr zu bieten: Der kleinen romanischen Basilika gegenüber steht der älteste spätgotische Fachwerkgiebel von Rheinland-Pfalz mit überkragenden Geschossen.
Unterhalb der Kirche liegt an einem Hang ein Freilichttheater. Die sehr gute Akustik zeigt sich bei einer Rezitation Eva Kargermanns.
Beschaulich liegt in Almersbach die Basilika aus dem 12 Jahrhundert am Ende einer langen Allee. In römischer Zeit führte ein Weg vom Köln-Bonner Raum über Limburg in den Frankfurt-Wiesbaden-Mainzer Raum. „So wurde am Handelsweg für Pilger diese Basilika gegründet.“, erklärt Herr Fleischer. Gerüstet mit einem Pilgerstab und mit Jakobsmuschel um den Hals führt er die Besuchergruppe und lässt sie an seinem geschichtlichen Wissen teilhaben.
Die dreischiffige Basilika ist berühmt für ihre Fresken, von denen viele für lange Zeit einfach übertüncht waren und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder freigelegt wurden. Seit 1915 kann man so die Heiligen Christopherus und Jakobus (14. Jahrhundert) wieder ansehen. Dass die Wandmalereien über 800 Jahre halten, ist für die Schüler*innen beeindruckend.
„Schon der kurvenreiche Weg durch die typische Westerwälder Landschaft zur Abtei Marienstatt hat etwas Meditatives“, stellt ein Schüler fest. Und dann beginnt der Weg durch den Torbogen mit Blick durch die Baumallee auf die Abtei Marienstatt (1198). Und mit einem Blick ist allen Schüler*innen klar: Es handelt sich um eine gotische, spitzbogige Kathedrale.
Besonders erhebend ist das Gefühl für eine der Schülerinnen, denn sie durfte im letztjährigen Praktikum zusammen mit dem Architekten Ingo Schneider die Baumallee planen: Der Chef hatte entworfen und ihre Aufgabe war es, die Zeichnung anzufertigen. Von außen, entlang dem gepflegten Heilkräutergarten, bewundern die Schüler*innen die typischen Strebebögen. Im Gebäudeinneren sind die romanischen Bögen in der Apsis und die gotischen Spitzbögen im Langhaus zu erkennen. Das hoch emporragende Kreuzgratgewölbe wirkt besonders imponierend. Rote Wände sind in der Abtei Marienstatt mit grauen Quadern bemalt, ohne Dekor – „ganz schlicht“, stellt ein Schüler fest, der sein Praktikum in der 11 bei einem Malermeister absolvieren durfte. Der Altar, ein grauer Halbkreis aus Basalt, ist in seiner klaren runden, ganz modernen Form ein starker Kontrast zur Gotik.
Schüler*innen und Lehrerin sind sich am Ende der Exkursion einig: Vor Ort sein zu können, die Atmosphäre genießen und die Kraft und Ausstrahlung der Räume und ihrer Ausgestaltung – das ist beeindruckend und inspirierend! Es hilft, die eigene Umgebung zu erschließen und die Kulturschätze wertzuschätzen. Viele der Fachoberschüler*innen haben den Wunsch, später in Berufen und Handwerken tätig zu sein, die die Region auch wirtschaftlich stärken, touristisch bekannt machen und kulturell bereichern wollen. Das Bewusstsein für die Erhaltung unserer Kulturgüter auch aus städteplanerischer Sicht zu stärken, Altes und Neues zusammenzudenken, ist von unschätzbarem Wert. „Wie wollen wir leben? Wie gestalten wir unseren Lebensraum?“, zitiert Gestaltungslehrerin Otte-Varolgil den Direktor des Bauhauses (Weimar, 1919). Fragen, die aktueller sind denn je, Fragen, mit denen sich die Gestalter*innen 2020 ernsthaft beschäftigen müssen.